Monatsimpuls August 2020

Download als pdf

 
„Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer sein Leben liebt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt geringachtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben. Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren. (Joh 12, 24-26)

 

18. August 1956, Pater Josef Kentenich:
Ansprache im Kapellchen in Milwaukee

 

Meine liebe Schönstattfamilie!

Mehr als in anderen Monaten freuen wir uns dieses Mal über den Bündnistag. Wir feiern diesen Tag ja im Schatten eines Marienfestes, das gemeiniglich als das größte während des ganzen Kirchenjahres aufgefasst wird. (Am 15. August feiert die Kirche das Hochfest „Mariä Aufnahme in den Himmel“.)

Wir sind ja davon überzeugt, dass an Marienfeiertagen ungemein viel Freude im Himmel ist, aber auch ungemein viele Gnaden auf Erden ausgeteilt werden. Wenn wir von jedem Bündnistag viele Bündnisgnaden erwarten, dann besonders von diesem Bündnistag.

Was das besagt, was das bedeutet, das wissen wir. Wir erwarten einen möglichst vollkommenen gegenseitigen Herzensaustausch, einen möglichst vollkommenen gegenseitigen Gaben- und Interessensaustausch. Was von Bedeutung ist, das ist eben das Wort: gegenseitiger Austausch.

Wir schenken also nicht bloß der lieben Gottesmutter vorbehaltlos unser Herz, sie schenkt auch uns ihr Herz vorbehaltlos. Sehen Sie, wir machen nicht bloß ihre Interessen zu den unsern, sie macht auch unsere Interessen zu den ihren. Wir schenken ihr nicht bloß alles, was wir haben, sie schenkt uns auch alles, was sie hat.

 

In dem Zusammenhang denken wir unwillkürlich daran, dass wir von einem Rosenaustausch gesprochen haben. Rose um Rose! Wir haben im Laufe des Jahres Monat für Monat irgendeinen Teil der Rose erklärt, gedeutet und auf das Liebesbündnis angewandt.

Im letzten Monat haben wir gesprochen von der Heilkraft der Rose. Und worin liegt in der natürlichen Ordnung die Heilkraft der Rose? Im gewöhnlichen Alltagsleben spricht man vom Rosenwasser und vom Rosenöl.

Was das Rosenwasser für eine Heilkraft hat? Nun, wir haben es gedeutet im Sinne der Anrufungen „Heil der Kranken“ und „Zuflucht der Sünder“.

Was wollen wir denn heute vom Rosenöl sagen? Welche Heilkraft liegt im Rosenöl! In der Welt wird das Öl allgemein als Symbol für die Barmherzigkeit aufgefasst.

 

Wir denken einmal an das tiefe Ereignis, das die Heilige Schrift uns darstellt: ein Mann, der unter die Räuber gefallen ist. (Vgl. LK 10.25-37) Wer hat sich seiner erbarmt? Das war nicht der Priester, das war nicht der Levit – das war eigentlich der Nationalheld der Kranken. (Gemeint ist der Mann aus Samarien) Und was hat er dem Kranken gegeben? Er hat Öl in die Wunden hineingegossen. Was heißt das, Öl hineingießen? Er hat sich barmherzig des Kranken erbarmt.

 

Sehen Sie, was heißt das, Rosenöl? Ich muss zuerst fragen: Wer ist denn die Rose? Das ist die Gottesmutter. Was heißt Rosenöl? Von dieser Rose geht Barmherzigkeit aus. Wie steht also die Gottesmutter vor uns? Als Mater misericordiae.

 

Das soll ja ein gegenseitiger Austausch sein: Die Gottesmutter will sich heute in besonderer Weise als Mutter der Barmherzigkeit uns gegenüber erweisen, und wir wollen uns in besonderer Weise als Mutter der Barmherzigkeit ihr gegenüber erweisen.

 

Sehen Sie, die alten Naturforscher haben uns erzählt, welche Kraft eigentlich im Öl, im Rosenöl steckt. Sie heben besonderes zwei Eigenschaften und deswegen eine doppelte Heilkraft hervor. Das Öl, so sagen sie, hat eine überaus beruhigende Kraft oder, besser gesagt, eine kühlende Kraft. Verstehen Sie, wenn der Körper gleichsam in Glut ist und man gibt ihm Öl, Rosenöl, das soll den Körper abkühlen.

Dasselbe gilt, wenn die Seele in Leidenschaften zerrissen, hin- und hergerissen wird. Wo ist dann die kühlende Kraft für die Leidenschaften? Rosenöl – da steht die Gottesmutter als die Mutter der Barmherzigkeit, die kühlt die Krankheiten des Leibes und die Leidenschaften der Seele.

 

Die alten Naturforscher kennen aber noch eine zweite besondere Wirkung des Rosenöls. Sie sagen so: Wenn man von einem tollen Hund gebissen wird und weiß dann mit Rosenöl diese gebissene Stelle zu berühren, wird man sofort wieder gesund.

Was verstehen wir unter diesem Biss des tollen Hundes? Das ist der Versuch des Teufels, in der Todesstunde die Seele für sich zu gewinnen.

Wo erweist sich also die Gottesmutter in besonderer Weise als die Mutter der Barmherzigkeit? Einerseits in allen schwierigen Lagen des Leibes und der Seele, aber sodann vor allem in der schweren Stunde des Todes.

 

Sehen Sie, da steht die Gottesmutter heute als Mutter der Barmherzigkeit vor uns, und kraft des gegenseitigen Bündnisses bietet sie uns erneut ihr Herz, ihr barmherziges Herz an.

Barmherzig war die Gottesmutter während ihres Lebens. Aus Barmherzigkeit hat sie den Menschen gedient. Aus Barmherzigkeit hat sie ihr eingeborenes Kind ans Kreuz nageln lassen. Weshalb hat sie das alles getan? Aus Liebe zu uns, auch aus Liebe zu mir.

 

In der Heiligen Schrift steht ein schönes Wort, das der Heiland auf sich selber anwendet: „Wenn ich von der Erde erhöht sein werde, ziehe ich alles an mich.“ (Joh 12,32)

Sehen Sie, dasselbe gilt von der lieben Gottesmutter. Durch die Himmelfahrt ist sie ja erhöht, nicht nur der Seele, sondern auch dem Leibe nach. Sie ist also oben im Himmel. Wir gratulieren ihr von Herzen und freuen uns zu wissen, dass auch wir einmal eine Himmelfahrt erleben dürfen.

Was sagt die Gottesmutter uns aber jetzt, in der Oktav ihres Himmelfahrtsfestes? Nachdem ich erhöht bin, werde ich alle Herzen an mich ziehen. Wie an mich ziehen? In endloser, barmherziger, mütterlicher Liebe ziehe ich alle Herzen an mich.

Sehen Sie, wenn sie alle Herzen an sich zieht, dann denkt sie doch besonders an uns, die wir unser Herz kraft des Liebesbündnisses ihr angeboten haben.

 

Wenn wir nun einmal überlegen, in welcher Weise mag sie denn wohl unsere Herzen heute erneut an sich ziehen, dann meine ich sagen zu dürfen: Sie tut das

erstens durch ihre Augen,

zweitens durch ihre Hände,

drittens durch ihr Herz.

 

Was heißt das, durch ihr Auge zieht sie uns an sich, lockt uns an sich? Sehen Sie, das ist doch so im Leben, was bedeutet da nicht oft ein Auge oder der Blick! Wie viele Blicke können Menschen wecken! Wir können oft mehr durch Blicke als durch Worte sprechen. Wenn unser Wort nicht mehr ausreicht, um zu zeigen, wie gerne wir jemand haben, dann muss das Auge herhalten.


Wenn wir zum Beispiel einmal überlegen, wie das früher war, als wir uns zuerst kennen lernten, etwa in der Brautzeit – wie haben dann die Augen gesprochen.

 

Sehen Sie, so sagen wir, die Gottesmutter wendet uns ihre barmherzigen Augen heute zu. So beten wir ja: Wende uns deine barmherzigen Augen zu.

 

Jetzt müssen wir das Auge der Gottesmutter einmal betrachten. Ist es wirklich ein lockendes, ein weckendes, ein gütiges, ein barmherziges Auge?

Wenn Sie einmal ins praktische Leben hineinschauen und beobachten, wie ein Mutterauge aussieht, da gibt es eine Menge Beispiele, die uns das veranschaulichen.

 

Wir schlagen einmal das Alte Testament auf. Sie erinnern sich, da wird vom Tobias und von der Mutter des Tobias gesprochen. (Vgl. Tob 4-11) Tobias wurde durch einen Engel in ein fernes Land geführt, er sollte sich dort eine Frau suchen. Tobias hatte mit Vater und Mutter abgemacht: dann und dann komme ich wieder zurück.

Die Zeit war vorbei. Die Mutter wurde unruhig, Tobias war noch nicht da. Was tat die Mutter? Was hätten Sie getan? Hätten Sie jetzt gesagt: Nun ja, ich koche weiter und warte; es wird schon recht werden, der Junge kommt schon!?

Die Mutter wurde unruhig – ständig Tür auf -und Tür zugemacht. Dann war da in der Nähe so ein kleiner Hügel. Und immer wieder auf den Hügel hinaufgestiegen, immer geschaut: Sieht man ihn nicht bald, kommt er denn nicht blad?

 

Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will? Das sind Mutteraugen. Das fällt mir gar nicht schwer, mir die Gottesmutter vorzustellen, wie sie mich vom Himmel aus, hier vom Heiligtum aus anschaut. Ihre Augen suchen mich ständig. Sie möchte wissen: Wo ist jetzt mein Kind? Wo arbeitet es? Ist es in Gefahr? Und wenn tausend Menschen um das Kind herum sind, die Mutteraugen haben keine Ruhe, bis sie das Kind entdeckt haben. – Wende uns deine barmherzigen Augen zu.

 

Sehen Sie, Barmherzigkeit von ihr setzt Hilflosigkeit von meiner Seite voraus. Ja, und wer von uns muss nicht sagen: Ich bin hilflos? Bald körperlich hilflos, sehen Sie, dann drückt‘s da, da oben irgendwo, ich weiß nicht wo.

Und dann seelisch hilflos, zumal bei uns, die wir ja doch nicht bloß brav und gut sein wollen, wir sollen ja heilig werden. Wir wollen ja an ihrer Hand nicht bloß zum Heiland, sondern auch zum Vater gehen, wir wollen ja alle Vaterkinder werden. Und wie groß ist da die Gefahr, dass wir weggerissen werden von der Welt, vom Strudel der Welt. Sehen Sie, die Mutteraugen sind ständig auf uns gerichtet. So zieht sie uns an sich durch ihr wachsames gütiges mütterliches Auge.

 

Darf ich Ihnen ein anderes Beispiel aus dem Leben zeigen? Denken Sie einmal an sich selber. Stellen Sie sich vor, ihr Lieblingskind ist schwer krank. Sie könnten zwar eine Krankenschwester haben, aber Sie wollen selber wachen. Jetzt müssen Sie einmal überlegen: Wie lange bringt es eine Mutter fertig, ohne zu schlafen beim Bett des Kindes zu wachen?!

 

Nicht wahr, meine liebe Schönstattfamilie, wir müssen wieder lernen, menschlicher über die Gottesmutter zu denken, einfältiger zu denken.

Wenn die beiden Mütter, von denen ich Ihnen jetzt erzählt habe, das fertig bringen – meinen Sie, die Gottesmutter, die würde bei allem, was wir tun, gleichgültig zusehen? Dann übersehen Sie, dass sie unsere wirkliche Mutter ist.

 

Nicht wahr, meine liebe Schönstattfamilie, wir müssen wieder lernen, menschlicher über die Gottesmutter zu denken, einfältiger zu denken.

Wenn die beiden Mütter, von denen ich Ihnen jetzt erzählt habe, das fertig bringen – meinen Sie, die Gottesmutter, die würde bei allem, was wir tun, gleichgültig zusehen? Dann übersehen Sie, dass sie unsere wirkliche Mutter ist.

 

Der liebe Gott hat sie ja zu unserer Mutter bestellt, hat ihr ein mütterliches Herz gegeben, hat ihr mütterliche Augen gegeben. Und sie hat feierlich dieses Angebot angenommen.

Wenn nun schon eine irdische Mutter ihrem Kind gegenüber so ist, wie muss dann unsere Himmelsmutter sein! – Wende uns deine barmherzigen Augen zu.

 

Sehen Sie, jetzt verstehen wir, weshalb zum Beispiel Heilige und Gottesgelehrte uns sagen: Wenn die Gottesmutter uns nicht anschaut, sind wir verloren! Was heißt das, dann sind wir verloren? Der liebe Gott hat mein Schicksal vom Blick der Gottesmutter abhängig gemacht.

Gott sei Dank, dass das so ist. Das geniert mich nicht. Das ist nicht so, als wenn ich mich jetzt stolz in die Brust werfen wollte und sagen würde: Ich will ohne dich zum Himmelsvater kommen.

 

Da wird ein Stückchen aus dem Leben des heiligen Franz Regis erzählt. Der hatte einen schweren Sünder zum Schafott zu begleiten. Dieser wollte sich aber nicht bekehren. Franz Regis weiß nicht mehr, was er machen soll, steht hilflos dem Sünder gegenüber, der ganz verhärtet ist. Was macht er schließlich in seiner Hilflosigkeit? Er holt aus seinem Brevier ein Bild, ein Marienbildchen, heraus, legt das vor ihn hin und sagt dem Verbrecher dann bloß das eine Wort: Sie liebt dich.

Da wird auf einmal der Sünder wach, lebendig, schaut den Priester an: Unmöglich! – Weshalb unmöglich? – Wenn die mich liebt, dann kennt sie mich nicht! Dann weiß sie nicht, wie viele Sünden ich in meinem Leben begangen habe: wie oft unwürdig kommuniziert, wie oft die Kirche gelästert, wie oft geflucht, wie oft die Ehe gebrochen. Und die Antwort des Priesters: Das weiß sie alles. Und dann der Sünder: Und trotzdem hat sie mich gern? – Ja, sie liebt dich! – Die Reaktion: ein ganzer Sturz von Tränen aus den Augen, der Mann ist bekehrt und geht zum Schafott.

Verstehen Sie, was das heißt? Ihre mütterlichen Augen wendet sie uns zu!

 

Und ich? Ich muss ihr auch meine mütterlichen Augen zuwenden. Habe ich auch barmherzige Augen? O, es gibt heute wenig, wenig Augen, die barmherzig sind. Viele Menschen mögen Gutes tun, aber nicht aus einem barmherzigen Herzen heraus. Sehen Sie, die Menschen sind hilflos und schreien nach einem mütterlichen Herzen, nach einem mütterlichen Blick.

 

Ja, in gewissem Sinne ist die Gottesmutter selber „hilflos“, sie ist in gewissem Sinne genauso hilflos, wie der Himmelsvater „hilflos“ ist. Der Himmelsvater will die Welt erlösen, aber er tut es nicht ohne unsere Mitwirkung. Die Gottesmutter will von hier aus die Welt erlösen helfen, kann es aber nicht ohne unsere Mitwirkung. Sehen Sie was hier steht? (Auf der Altarborte im Schönstatt-Heiligtum steht häufig das Wort: Nichts ohne dich, nichts ohne uns.) Deswegen hat sie sich ja hier niedergelassen, um von hier aus ein Bündnis mit uns zu schließen.

 

Ja, wir sollen auch ein barmherziges Herz und barmherzige Augen gegenüber der Gottes-mutter haben. – Suscipe, Sancte Pater. Sehen Sie, nicht bloß: Suscipe Sancte Pater – Suscipe beatissima Virgo Maria, Mater ter Admirabilis. (Nimm hin, glückseligster Jungfrau Maria, Dreimal Wunderbare Mutter) Barmherzigkeit gegen Barmherzigkeit.

Barmherzig will ich der Gottesmutter gegenüber sein durch meine Beiträge zum Gnadenkapital. Barmherzig: Ich schenke mich ihr als Werkzeug, mit mir kann sie machen was sie will, nichts mehr will ich für mich haben.

 

Dieses gegenseitige Verschenken erwarten wir von jedem 18., also von jeder Erneuerung. Aber ich meine, in diesem Monat in besonderer Weise. Den Grund kennen wir: Himmelfahrt. Wenn ich von der Erde erhöht sein werde, ziehe ich alles an mich.

So bitten wir denn: Trahe nos. Ziehe uns dir nach. Dem Geruch deiner Salben wollen wir nachlaufen. (Vgl. Hld 1,3f)
So wollen wir diesen Monat zubringen unter der Parole: Barmherzigkeit um Barmherzigkeit.

Nos cum prole pia…

Pater Josef Kentenich