Monatsimpuls Juni 2025

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Eine Sorge, die ich oft höre, wenn über den Rückgang der katholischen Christen und die sich daraus ergebenden Veränderungen diskutiert wird, lautet etwa folgendermaßen: „Nach dem Wirtshaus, der Arztpraxis und dem Supermarkt nimmt man uns jetzt auch noch die Kirche. Wenigstens da soll es so bleiben wie früher.“

Menschlich ist das sehr nachvollziehbar. Schließlich leben wir in einer Zeit voller Veränderungen. Gerade da wünscht man sich wenigstens bei Kirche und Glauben Stabilität und Kontinuität, um all diese Umwälzungen bewältigen zu können. Dazu kommt, dass vermutlich jeder Mensch, der sich heute in der Kirche engagiert und seinen Glauben aktiv lebt, irgendwann einmal in seiner eigenen Biografie Kirche und Glauben als so positiv erlebt hat, dass er sich entschlossen hat, dabeizubleiben, weil es einem etwas gibt. Irgendwann war da beispielsweise der Moment, wo man gespürt hat, die Beziehung zu Gott ist real. Gott existiert und er ist mir wichtig. Und natürlich wünscht man sich dann kirchliches Leben in der Art, wie es einem diese Gottesbegegnung ermöglicht hat. Man wünscht sich das für sich selbst und für andere, denen man diese Gotteserfahrung ebenso ermöglichen möchte.

Was soll daran so falsch sein? Um diese Frage redlich zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die Urkirche, zurück zu den ersten Jüngern Jesu. Es waren Menschen, die im Alter von vermutlich Ende Zwanzig, Anfang Dreißig waren. Ihr bisheriges Leben, das von weitgehender Kontinuität geprägt gewesen sein dürfte, verlassen sie abrupt, um diesem Zimmermannssohn aus Nazareth zu folgen. Eine Phase der Wanderschaft von zwei, höchstens drei Jahren. Eine Phase die geprägt und begeistert hat. Eine Phase, die gut und gerne so hätte weitergehen können. Denken wir an Petrus, der am Berg Tabor drei Hütten bauen möchte. Aber es kam anders und endete in Passion und Tod Jesu. Menschlich eine Katastrophe. Alles, wofür man sein bisheriges Leben verlassen hatte, schien in Trümmern zu liegen. Doch weit gefehlt. Jesus ist auferstanden, er lebt. Es dauert 40 Tage bis die Apostel sich daran allmählich gewöhnen. Auch da begegnet uns wieder der Versuch, diesen Seinszustand der Weggemeinschaft mit Jesus zu konservieren: „Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen“ (Joh 20,17), sagt Jesus zu Maria Magdalena. Dann folgt Jesu Himmelfahrt. Wieder ist alles anders. Wie soll es jetzt weitergehen? Diese Frage steht im Raum und die Antwort wird im Abendmahlsaal erbetet und ersehnt bis zum Pfingstfest. Doch wer geglaubt hätte, dass ab Pfingsten das Leben der Apostel endlich in geordneten Bahnen verlaufen wäre, der hätte sich abermals getäuscht. Unterwegs bis an die Grenzen der Erde sind sie. Auf ständig neue Situationen müssen sie sich einlassen. Immer in der Gewissheit, dass Jüngerschaft im Ernstfall auch bedeuten kann, das Evangelium mit dem eigenen Leben bezeugen zu müssen.

Dieser Befund aus der Urkirche macht schnell deutlich, dass Christusnachfolge nach weltlichen äußeren Kriterien nie geeignet war und ist, Stabilität und Kontinuität zu liefern.

Das gilt sowohl für den einzelnen Christen, als für die Kirche insgesamt; damals genauso wie heute. Und trotzdem bietet der Glaube den Menschen seit dem Christusereignis eine Stabilität und einen Halt, für den sie bereit sind und waren irdische Sicherheiten aufzugeben.

In unserer aufgeklärten Welt suchen wir mehr als in früheren Zeiten Halt und Sicherheit durch messbare Faktoren. Beispielsweise eine stabile Wirtschaft, eine gute Absicherung im Krankheitsfall oder im Alter oder Stabilität in der Gesellschaft durch Wohlstand und soziale

Gerechtigkeit. Der Glaube bietet solche Gewissheiten nicht. Gerade in unserer Zeit scheint es mir enorm wichtig, sich das bewusst zu machen. Unser Glaube und die Tatsache, dass er für das Leben ein Anker sein kann, das lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden nicht beweisen, etwa wie die Tatsache, dass die Erde rund und keine Scheibe ist. Manchmal scheint mir, wir versuchen, den Menschen vorrangig die Aspekte von Kirche schmackhaft zu machen, die messbar sind und die wir nachweislich als positiv darstellen können und die es natürlich auch gibt: Beispielsweise das caritative Engagement, die Leistungen in Kultur und Bildung oder die Vermittlung von Werten. All das ist richtig, aber es sind Felder, in denen auch andere, selbst nicht gläubige Menschen ihre Verdienste haben.

Was wir zu bieten haben, das geht tiefer. Aber wir müssen uns auch gegenüber uns und anderen ehrlich machen, dass wir von Dingen ausgehen, die wir fest glauben, die aber nicht bewiesen werden können. Eine interessante, aber auch provokante Beschreibung dessen, was einen gläubigen Menschen ausmacht habe ich kürzlich bei dem französischen Autor, Regisseur und Philosophen Eric-Emmanuel Schmitt entdeckt. Vielen ist er bekannt durch Filme wie „Oskar und die Dame in Rosa“ oder „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“. In einem atheistischen Elternhaus aufgewachsen hat er zum katholischen Glauben gefunden, bezeichnet sich aber als gläubigen Agnostiker. In einem Interview formuliert er: „Die wissenschaftliche Wahrheit braucht meine Zustimmung nicht. Zwei plus zwei ist vier, egal, was ich davon halte. Metaphysische oder religiöse Aussagen hingegen brauchen meine Zustimmung oder Ablehnung und zwar nicht aus rein rationalen Gründen. Ich muss mich positionieren. (…) wir sind alle Agnostiker, da die Frage nach Gott keine Frage des Wissens ist und sich nicht mit dem reinen Verstand entschei­den lässt.  (…) Es gibt drei Arten von Agnostikern: Es gibt Gläubige wie mich, Atheisten und gleichgültige Agnostiker. Wenn man mich fragt, ob Gott existiert, antworte ich: ‚Ich weiß es nicht, agnosco, aber ich glaube fest und ohne Zweifel, dass er existiert.‘ Einige meiner Philosophenfreunde antworten auf dieselbe Frage mit ‚Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht.‘ Und meine Mutter antwortete: „Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal.“[1]

Sind wir bereit, uns in diesem Sinne als gläubige Agnostiker zu outen. Sind wir bereit zuzugeben, an etwas fest und ohne jeden Zweifel zu glauben, was wir weder wissen noch beweisen können? Sind wir bereit zuzugeben, dass unser größter und festester Anker im Leben etwas oder besser gesagt jemand ist, den wir nicht greifen können. Es ist der Heilige Geist. Die göttliche Person des dreifaltigen Gottes, die am wenigsten greifbar ist, ist ausgerechnet das

Prinzip, das uns Stabilität und Halt und Kontinuität auch und gerade in einer Welt voller Veränderungen und Umbrüchen gibt. Das gilt in gleicher Weise für alle Veränderungen und Umbrüche in der Kirche.

Der Heilige Geist ist auch wesentlich für das rechte Verständnis der zentralen Botschaft unseres Glaubens, das Evangelium Christi, wie es uns überliefert ist. Eine Botschaft, die wir Christen als unveränderlich, aber nicht statisch annehmen. Sie muss vielmehr im Licht des Heiligen Geistes immer wieder neu gelesen und verstanden werden, in die jeweilige Zeit hinein.

Ohne die Geistausgießung an Pfingsten wäre Kirche nicht vorstellbar. Ohne den Glauben an den Geist Gottes würde Kirche nicht existieren. Gerade unsere Zeit braucht eine Kirche, die für eine andere Wirklichkeit steht. Eine Wirklichkeit, die zu dem Bereich von Wirklichkeit den wir mit der Vernunft wahrnehmen, messen und beweisen können nicht im Widerspruch steht, sondern ihn vielmehr erweitert zu einer gesamten Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die in ihrer Gesamtheit nur mit Glauben und Vernunft erfasst oder zumindest erahnt werden kann.

Die Welt, in der wir leben, unterliegt einem ständigen Wandel, sie kann keine letztgültige Verlässlichkeit bieten. Auch die Kirche unterliegt in ihren äußeren Erscheinungsformen von Beginn an diesem Wandel. Doch in ihrer Mitte und aus ihrer Mitte heraus wirkt und zeigt sich der ewige und immer gleiche Gott. Wer seinen Lebensanker in ihm fest macht und sich von seinem Heiligen Geist leiten lässt, der wird sich niemals im Wechsel der Zeiten verlieren. Vielmehr wird er Orientierung finden und anderen bieten können.

 

Wappen StolbergWeihbischof Rupert Graf zu Stolberg, Erzbistum München und Freising

Verantwortlicher in der Deutschen Bischofskonferenz für den Ständigen Diakonat

 

 

[1] Die Tagespost, 22.05.2025, S. 9