Monatsimpuls Oktober 2024
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Erntedank – eine Gelegenheit, die Schönheit und die Schrecken der Ungewissheit zu betrachten
Im Buch Deuteronomium wird im 26. Kapitel die Darbringung der Erstlingsfrüchte beschrieben. Erntedank. Der Text mündet in die Aufforderung zum Freudenfest gemeinsam mit der ganzen Familie, den Leviten und allen Fremden, die da sind.
Aber der Grund des Freudenfestes sind nicht allein die Erntefrüchte, die Israel in den Händen hält.
Grund der Freude ist die ganze Geschichte der Heimatlosigkeit der Aramäer – all diese Ungerechtigkeit in der Fremde, diese andauernde Ungewissheit, in der das Volk leben muss, die Arbeitslast und die Bedrängnis. Gott, der Herr; hat mit starker Hand und hoch erhobenem Arm unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern das Volk aus Ägypten herausgeführt in dieses Land, in dem Milch und Honig fließen.
Die neue Ernte in den Händen denkt Israel an alle Ungewissheit auf dem Weg durch die Geschichte.
Da ist nicht von Selbstberuhigung die Rede. Durchlebte Ungewissheit führt die Israeliten auf geradezu gnadenvolle Weise den Weg zu einem immer tieferen Gottvertrauen hin. Es scheint so, als ob nagender Kontrollverlust ihnen ermöglicht, in so etwas wie Hingabe hineinzuwachsen. Sie werden in der Ungewissheit scheinbar in schöpferisches Mit-Wirken hineingerufen.
Was kann ich bei diesen Israeliten abschauen, wenn ich mich selbst treibend im Meer der Ungewissheiten wahrnehme?
- Zuerst sehe ich bei diesen Leuten immer wieder eine neue Intention in ihrem Handeln. Ihre Absicht macht die Ungewissheiten in ihrer Geschichte nicht durchschaubarer. Aber ihre Intention klärt die Bedingungen unter denen das Volk weiterzieht. Sie akzeptieren häufig, was nicht in ihrer Macht liegt. Sie wollen (mit ihrem Gott) all das überstehen und dorthin finden, wo ihr Ziel vorbereitet ist.
- Dann sehe ich diesem Volk eine erstaunliche Beweglichkeit Auf der wogenden See wird man seekrank – und wer seine festgefügten Standpunkte nicht verlassen will, den erwischt es zuerst. Wer sich durch Wüsten und Meere bewegen will, braucht dynamische Schwank-Punkte. Sie lernen, dass die Dinge gut sein können, auch wenn alles auf den Kopf gestellt wird. Denn Leben ist immer Bewegung.
- Die Menschen, die da in Ägypten aufbrechen, haben eine außergewöhnliche Beziehungsfähigkeit. Weil sie sich auf ihren Wegen völlig allein und verlassen fühlen von den Menschen, halten sie die Beziehungen untereinander und zu ihrem Gott. Das gelingt nur unter großen Kämpfen. Aber sie schaffen neue Verbindungen zu ihrer Situation, zu ihrer Geschichte, zu ihren Absichten und Ideen und zu ihrem Gott.
Je mehr ich mich auf eine gefasste Absicht, eine große Beweglichkeit und Beziehungsfähigkeit einlasse, desto mehr scheint mir das Meer der Ungewissheiten ein Meer der Möglichkeiten zu werden.
Diakon Bernhard Lippold